Handwerk mit Hirn

Publiziert von Lars Vollmer, auf Capital.de am 11. Dezember 2015


Theorien werden in deutschen Firmen nur wenig geschätzt. Dabei sind die Praktiker ohne Theorie aufgeschmissen.

Es offenbart sich immer deutlicher: In Deutschland sind Theoretiker verpönt. Im Mittelstand besonders. Ja, „Theoretiker“ ist mancherorts sogar schon zum Schimpfwort verkommen. Praktiker, Schaffer und Macher sind stattdessen gefragt, die anpacken und ganz reale Probleme lösen können. Die Verwaltungsangestellten, die sich um die Flüchtlinge am Münchener Bahnhof kümmern, empören sich über die Hirngespinste der Politiker, die Journalisten fühlen sich sämtlichen Medientheorien überlegen, die experimentellen Physiker finden sich besser als die theoretischen und die Maurer und Handwerker mögen den Architekten nicht. Nicht umsonst wird er auf dem Bau voll versteckter Wertschätzung „Arschitekt“ genannt.

Ja, die Praktiker stellen sich zunehmend gerne über die Theoretiker, als wären sie etwas Besseres, weil sie mit ihren Händen statt mit ihrem Kopf arbeiten. Firmen rühmen sich schon damit, dass sie sich nicht mit Theorien auseinandersetzen. „Wir lesen hier keine Bücher, Herr Vollmer“, warf mir neulich mit triumphierender Geste ein mittelständiger Unternehmer zu. Und auch Universitäten und Hochschulen werben damit, dass ihre Studiengänge einen hohen Praxisbezug haben.

Kein Haus ohne Architekt

Das finde ich auch alles super, denn es ist etwas, worauf Unternehmen stolz sein können: Die Fähigkeit, Dinge anzupacken, pragmatisch zu sein und schnell mal etwas auszuprobieren, ist natürlich wichtig für die Wirtschaft. Aber wo stünde die Welt heute, hätte niemand die Fähigkeit, wissenschaftlich zu denken und Theorien zu entwerfen? Wo stünde die Welt, hätte es ihre großen Theoretiker wie Albert Einstein, Galileo Galilei, John Maynard Keynes oder Niklas Luhmann niemals gegeben?

Oder mal ganz „praktisch“ gesprochen: Gäbe es die euklidische Geometrie nicht, würde überhaupt noch ein Haus stehen? Gäbe es keine theoretischen Physiker, wäre der Mensch jemals ins All geflogen? Gäbe es keine Forscher, die Theorien überprüfen, würde irgendwo auf der Welt Krebs geheilt werden?

Die verpönte Theorie

Nun mögen Sie sagen, dass es ja klar ist, dass die Wissenschaften Theorien benötigen. Aber was hat das denn mit (mittelständischen) Unternehmen zu tun, deren Ziel es ist, Wertschöpfung zu generieren und ihren Kunden Nutzen zu stiften? Nun, es braucht Theorie, damit es praktisch werden kann. Oder glauben Sie, jemanden mit der Entwicklung eines modernen Verbrennungsmotors beauftragen zu können, der die grundlegenden Theorien der Physik nicht kennt? Wenn es nicht drauf ankommt, ob und wann der Motor laufen soll, geht das natürlich. Nur ein Industrieunternehmen würde ich dafür nichts aufs Spiel setzen.

Warum ist die Theorie also so verpönt? Weil sie etwas Abstraktes ist? Ja genau, das ist sie. Eine Theorie legt ihren Einsatzzweck nicht selbst fest, bestimmt nicht, wo und wofür sie eingesetzt wird. Sie ist wie ein Werkzeug, ähnlich wie eine Schere, die individuell in den unterschiedlichsten Situationen verwendet werden kann und sich an den Kontext anpassen lässt. Wofür die Theorie in der Praxis verwendet wird, entscheidet der Nutzer, oder in anderen Worten: der Mensch. Und das macht die Theorie so wunderbar: Sie ermöglicht es – in Kombination mit dem Nutzer – auf Überraschungen zu reagieren und Probleme zu lösen, die noch nie zuvor da gewesen sind. Ich finde das äusserst praktisch.

Keine Theorie ohne Problem

Und wo wir gerade bei praktisch sind, nun zum glorifizierten Gegenstück der Theorie: die Praxis. Zunächst ist festzustellen: Praxis ist nicht das Gegenteil von Theorie. Das sind wohl eher Empirie oder Methoden, die in der Praxis angewandt werden. Und diese Methoden sagen an, was zu tun ist. Eine Methode ist wie ein Rezept, das idiotensicher zu sein scheint. Wenn die Methode klug ist, kann der Benutzer dumm sein. Das mag sich sehr tröstlich und behaglich anfühlen, ist aber „in der Praxis“ gar nicht so hilfreich. Denn eine Methode ist darauf angewiesen, dass alles in ihrem Umfeld genau so ist, wie es in der Methodenentwicklung vorgesehen war, sonst lässt sie sich nicht wiederholen.

Das Problem ist nur: In der dynamischen Umgebung moderner Märkte gibt es wenige Wiederholungen dafür viele Überraschungen. Für Überraschungen aber kann es keine Methoden geben, sonst wären es ja keine. Wo Methoden fehlen, braucht es Ideen zum Handeln. Theorie nun ist so etwas wie ein Qualitätsfilter für Ideen. Ohne Theorie müssten alle Ideen, auch die Schnapsideen, ausprobiert werden, um ihre Qualität zu prüfen. Ob Ihre Zeit und Ihr Geld dafür ausreichen?

Im Gegensatz zur Methode lässt sich also Theorie nicht umsetzen. Wegen ihrer Abstraktheit kann sie aber auch Probleme lösen, an die eine Methode nicht mal ran kommt – weil genau das der grosse Vorteil von Theorie ist: sich an die gegebene Situation anzupassen.

Fragen Sie einmal einen Theoretiker, wie Sie eine Schere richtig benutzen. Er wird Ihnen antworten: „Was möchten Sie mit der Schere denn tun? Wenn Sie beispielsweise etwas schneiden möchten, kommt es darauf an, welches Material sie haben und wie dick es ist. Wenn Sie hingegen jemanden erstechen möchten, dann…“

Ja, Theorien an sich tun nichts – und sie sind nichts ohne ein Problem und ohne Menschen, die sie nutzen. Und dennoch sind sie unabdingbar. Sie sind nicht minderwertiger als die Praxis oder die Methoden. Genauso wenig ist die Praxis aber minderwertiger als die Theorie. Sie brauchen sich gegenseitig.

Ohne Theorie keine Praxis und ohne Praxis keine Theorie

Theoriefreie Zonen sind brandgefährlich. Nicht weil Probleme in komplexen Situationen nicht auch manchmal ohne Theorien gelöst werden könnten. Durch glückliches Trial-and-Error beispielsweise. Nein, vielmehr weil erfolgreiche Unternehmer ohne Theorie ihren Erfolg nicht schützen können. Reine Praktiker haben keine Ahnung, wie sie einen möglichen Erfolg einsortieren können, weil sie nicht wissen, warum etwas ist, wie es ist – warum ihre Methode sie beispielsweise zum Erfolg geführt hat.

Das bedeutet, sie müssen alles immer wieder neu ausprobieren. Wie lästig! Schlimmer noch: Wenn sie ohne konsistente Organisationstheorie über Ihr Unternehmen sprechen, dann fallen all die sprachlichen Schlampereien überhaupt nicht auf. Alle reden aneinander vorbei und keiner merkt es. Und das bedeutet auch: Jedes Unternehmen, dessen Selbstverständnis darauf basiert, dass es Theorie ablehnt und Praxis über alles stellt, gründet sich letztlich auf Dummheit.

Sehen Sie es so: Ein Hobbykoch kann wundervolle Rezepte entwickeln, ebenso wie ein gelernter Koch, der regelmäßig Weiterbildungen besucht. Aber nur der Koch kann ein gutes Rezept schützen und es weiter entwickeln, weil nur er die Hintergründe eines guten Rezeptes kennt – wie sich Eiweiß verhält, wenn es erhitzt wird, welche Geschmacksrichtungen sich gut kombinieren lassen etc. Ohne dieses Wissen ist jedes Weihnachtsrezept dem Zufall überlassen. Guten Appetit.